Von Marion Saxer
In Darmstadt, das seinen Ruf als „Stadt der Künste“ zu Recht besitzt, ist neben dem Internationalen Musikinstitut Darmstadt (IMD) mit seinen im Zweijahresrhythmus stattfindenden SommerFerienkursen eine zweite Institution ansässig, die sich der zeitgenössischen Musik widmet, freilich mit einer anderen Zielsetzung:
Das Institut für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) verbindet in seiner alljährlich stattfindenden Frühjahrstagung Angebote zur Theorie und Praxis neuer Musik mit musikpädagogischen Fragestellungen. Die Tagung des INMM ist ein wichtiger Termin und Treffpunkt für alle im musikerzieherischen Bereich Tätigen, die der Praxis und Reflexion der Gegenwartskunst einen wichtigen Stellenwert für ihre Arbeit einräumen.
Zur Geschichte des INMM
Mittlerweile blickt das INMM auf eine 53jährige, ereignisreiche und wechselvolle Geschichte zurück, in der zentrale Aspekte der Entwicklung der Musikpädagogik, der Neuen Musik sowie der Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland zu Tage treten. Das Institut wurde 1948 in Bayreuth im Rahmen einer Arbeitstagung ‚Die neue Musik im Unterricht‘ 1 gegründet, mit dem Anliegen, die während des dritten Reichs verbotenen, nicht zugänglichen zeitgenössischen Kompositionen einem breiteren Publikum und insbesondere Musikerziehern bekannt zu machen.
Der überwältigende Zuspruch, den diese erste Tagung fand, verdeutlichte, wie groß das Bedürfnis nach kultureller Öffnung in dieser Zeit war: Trotz der schwierigen Reisebedingungen im viergeteilten Deutschland nahmen 450 Musikerzieher, Komponisten, Künstler, Musikkritiker, Musikverleger, Studenten und Schüler aus dem In und Ausland teil.
Von 1951 an fand die Tagung in Darmstadt ihren Ort. Zu den Gründern des Instituts zählten so bedeutende Musikpädagogen wie Prof. Dr. Hans Mersmann, Köln und Prof. Dr. Erich Doflein, Freiburg i. Br. Deren Überzeugung, dass sich eine Erneuerung der musikalischen Erziehung nur aus der Verbindung mit der zeitgenössischen Musik und Kunst heraus erreichen lässt, besitzt bis heute eine ungebrochene Aktualität (und harrt bis heute vielerorts der Einlösung).
Die Programme der ersten Jahre des Instituts spiegeln die Gesamtsituation der Musikpädagogik nach 1945 wider: Daß etwa Fritz Jöde – eine zentrale Figur der Jugendmusikbewegung – im Jahre 1949 allmorgendlich „Offene Singstunden“ abhielt, dokumentiert die vorherrschende Rolle der Jugendmusikbewegung für die Musikerziehung unmittelbar nach dem Krieg. Chormusik bestimmte die ganzen 50er Jahre hindurch zu einem großen Teil die Tagungsprogramme.
Die Verwurzelung des Instituts in der Jugendmusikbewegung, deren Rituale und Musikformen vom Naziregime schamlos und äußerst erfolgreich für eigene Zwecke funktionalisiert worden waren, wurde bereits 1952 von Theodor W. Adorno im Rahmen einer Tagung des INMM scharf kritisiert. Von seinen 1954 in Darmstadt vorgetragenen Thesen gegen die Pädagogische Musik gingen wesentliche Impulse für die Musikpädagogik der Folgezeit aus.
Sie setzten eine Reflexion in Gang, die von den Vertretern der Jugendmusikbewegung bislang nicht geleistet worden war. 2 Zunächst kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Adorno und Doflein, in der die Unvereinbarkeit der Positionen deutlich wurde.
Von 1957 an veränderte sich kontinuierlich die Struktur der Arbeitstagungen. Es setzte eine Spezialisierung ein, die Doflein als nun 1. Vorsitzender zusammen mit Sigfried Borries beförderte. Es fanden Kongresse zu bestimmten Themen statt, deren Referate zunächst beim MerseburgerVerlag und von 1970 an beim Schott Verlag im Druck erschienen. Die Schriftenreihe des INMM zählt heute zu den bedeutenden Veröffentlichungsreihen zum Thema Neue Musik und Musikpädagogik; in ihr sind zahlreiche namhafte Autoren der jüngeren Musikgeschichte vertreten.
Allmählich bestimmte die von Adorno formulierte Forderung nach Werkanalyse als musikpädagogischem Konzept immer stärker das Tagungsangebot des INMM. Mit der Berufung des Musikwissenschaftlers Rudolph Stephan zum Leiter der Kongresse im Jahre 1964 wurde diese Tendenz gleichsam „institutionalisiert“. Stephan formulierte mit seinen Tagungsprogrammen sowohl für die musikwissenschaftliche, wie auch für die musikpädagogische Reflexion neue Maßstäbe.
Hochrangige Wissenschaftler und Komponisten der Zeit, wie z. B. der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus, die Komponisten Diether de la Motte, Erhard Karkoschka und György Ligeti sowie die Musikpädagogin Sigrid AbelStruth waren als Referenten eingeladen. Den Eröffnungsvortrag von 1964 bestritt der prominente Pädagoge Hartmut von Hentig mit dem Thema Korrektive in der modernen Gesellschaft; Meinungen eines Pädagogen. Damit war eine erste Blickerweiterung über die Grenzen der musikbezogenen Fachwissenschaften hinaus vollzogen.
Die Studentenbewegung der 60er Jahre schlug sich auch in der Institutsgeschichte des INMM nieder: Im Rahmen des Kongresses zum Thema „Musik und Politik“ im Jahr 1969 kam es unter reger Beteiligung vieler Studenten zu turbulenten Diskussionen und einem Manifest. Umfassende inhaltliche Veränderungen der Tagung blieben allerdings aus, da sich die Vertreter der kritischen Studenten nicht im Vorstand behaupten konnten.
Mit der Wahl Reinhold Brinkmanns zum ersten Vorsitzenden im Jahr 1976 begann eine Entwicklung, bei der die musikalische Praxis wieder stärker Berücksichtigung fand. Jazz, Pop und Improvisation wurden in den Themenkanon aufgenommen. Diese inhaltliche Linie führten Johannes Fritsch und Ekkehard Jost weiter. Sie ist dem Institut bis heute erhalten geblieben. Die 70er (und frühen 80er) Jahre können auch als die Hochzeit der Instrumentalkurse betrachtet werden.
Offenbar war in dieser Zeit das Bedürfnis junger Interpreten, etwas über neue Spieltechniken zu erfahren, besonders groß. Legendär sind mittlerweile die Kurse von Marianne Schroeder, Bernhard Wambach, Bernd Konrad und Eberhard Blum, dem in seinen Kursen auch eine inhaltliche Anbindung an die Tagungsthemen gelang. 4 Die 80er Jahre mit den ersten Vorsitzenden Hellmut Kühn (198183) und Diether de la Motte (198489) sind geprägt durch den Versuch, mit einem möglichst breiten Themenspektrum aktuelle Tendenzen der Musikentwicklung aufzuarbeiten.
Die Themenpalette reichte von eher sachorientierten Themen wie „Musiktheater“ (1981) oder „Musik und Raum“(1989) bis zu pädagogisch ausgerichteten Fragestellungen wie z. B. „Neue Musik und ihre Vermittlung“ (1986) oder „Musik zwischen E und U“(1984).
Die 90er Jahre und der Beginn des neuen Jahrhunderts brachten einige einschneidende Ver-änderungen des Tagungsangebots. Die Forumskonzerte junger Kompositionsschüler wurden von Komponistengesprächen und Portraitkonzerten abgelöst, in denen den Tagungsteilneh-mern das Schaffen und Denken eines junger Künstlers eingehender vorgestellt werden konnte.
Hier waren z. B. junge Komponisten wie Jörg Widmann oder Christoph Staude eingeladen. Die Instrumentalkurse wurden mangels Teilnehmerzuspruch zugunsten einer verstärkten Seminararbeit eingestellt.
Insgesamt kann diese Phase der Tagungsgeschichte als eine Zeit der Öffnung beschrieben werden. Neue Kunstformen, die mittlerweile das Bild der Gegenwartskunst wie selbstver-ständlich prägen, fanden bereits früh ein Forum in Darmstadt. Im Jahr 1989 z. B. war Christina Kubisch mit einer Klanginstallation vertreten.
2001 konnte in Zusammenarbeit mit dem Atelierhaus Vahle eine Raum-Klang-Skulptur von Katja Kölle realisiert werden. Ein beson-deres Augenmerk legt das INMM auf die Entwicklung der elektro-akustischen Musik. Verschiedene Tagungsthemen versuchten den Wandel der musikalischen Wirklichkeit zu reflektieren (z. B. „Konzert-Klangkunst-Computer“ (2001). Die Kooperation mit dem Hessischen Landesmuseum Darmstadt, das einen ganzen Tag lang „bespielt“ werden konnte, be-deutet eine Öffnung in den städtischen Raum hinein, die in den folgenden Jahren weiter-geführt werden soll.
Eine Öffnung vollzog sich auch in der theoretischen Arbeit. Zu der Erörterung spezifisch musikwissenschaftlicher und musikpädagogischer Themenbereiche trat die Reflexion allgemeiner ästhetischer Fragestellungen, die auch Referenten nicht musik-spezifischer Disziplinen einbezog. Im Rahmen der Tagung „Klang und Wahrnehmung“ (2000) etwa trug der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme sein Konzept „Akustischer Atmosphären“ vor, das intensiv diskutiert wurde.
Die schwierige Balance zwischen Theorie und Praxis, eine Hauptaufgabe, die sich dem Institut immer wieder von neuem stellt, wird durch direkt auf die Unterrichtspraxis von Schule und Musikschule ausgerichtete Kursangebote erreicht. Daß ganze Schulklassen eingeladen waren, die ihre Arbeiten vorführten, bedeutet auch für diesen Bereich eine Öffnung.
Das INMM heute
Die Aufgabenstellung des INMM hat auch heute an Aktualität und Dringlichkeit nichts eingebüßt. Die Einsicht, dass Musikerziehung nur dann beanspruchen kann zeitgemäß zu sein, wenn sie die Erscheinungen und Tendenzen zeitgenössischer Kunst zur Kenntnis nimmt und angemessen reflektiert, hat sich in einigen musikerzieherischen Bereichen, wie z. B. der Musikschularbeit oder aber auch in der musikpädagogischen Forschung noch nicht ausreichend durchgesetzt. Es bleibt viel zu tun.
Heute steht die Idee der Vernetzung im Mittelpunkt der Darmstädter Tagungsprogramme. Das INMM begreift sich als eine weltweit einmalige Einrichtung zur Förderung des Diskurses zwischen allen Disziplinen, die sich mit der Produktion, Darbietung, Verbreitung und Re-flexion neuer Musik aller Bereiche von Moderne, Avantgarde, Klangkunst, Jazz und Musik der Jugendkulturen befassen.
Im Rahmen seiner Frühjahrstagung schafft das Institut Möglichkeiten der Begegnung und des Erfahrungsaustauschs zwischen Komponisten, ausübenden Künstlern, Musikwissenschaftlern, Musikpädagogen, Vertretern anderer einschlägiger Wissenschaften und der musikinteressierten Öffentlichkeit, um aus der Verbindung von ästhetischer Erfahrung mit der Reflexion neuesten Musikschaffens Grundlagen musikpädagogischen Handelns zu gewinnen.
Jede Tagung hat ein jeweils eigenes für Fragen zeitgenössischer Kunst relevantes Tagungs-thema, auf das alle Tagungsangebote ausgerichtet sind. Die Grundidee der Vernetzung verschiedener Teildisziplinen spiegelt sich im Aufbau des Tagungsprogramms: Das Forum Ästhetik reflektiert und diskutiert grundlegende Aspekte zur Produktion, Rezeption und Distribution von Musik im Rahmen des Tagungsthemas.
Das Forum Analyse ist konkreter auf die theoriegeleitete Analyse einzelner Werke aus-gerichtet. Im Forum Musikpädagogik werden theoretische Ansätze der pädagogischen Vermittlung Neuer Musik entwickelt.
Das Forum musikpädagogische Praxis stellt pädagogische Projekte aus Schule und/oder Musikschule vor und bietet die Möglichkeit eigener praktischer Erprobungen. In den Plenumsgesprächen werden die Dozenten der verschiedenen Disziplinen und die Tagungsteilnehmer zusammengeführt.
Hinzu kommen am Tagungsthema ausgerichtete musikwissenschaftliche Seminare, Interpretationsworkshops und Komponistengespräche sowie die allabendlich von hochrangigen Ensembles dargebotenen Konzerte.
Entsprechend der Grundidee der Vernetzung verschiedener Teildisziplinen ist der Teilnehmerkreis sehr vielfältig: Instrumental-Vokalpädagogen, Musikwissenschaftler, Musikpädagogen, Schulmusiker, Kulturwissenschaftler, Philosophen, Interpreten, natürlich Studenten all dieser Disziplinen sowie interessierte Laien sind angesprochen. Ihre besondere Lebendigkeit gewinnt die Tagung aus dem wechselseitigen Austausch ihrer unterschiedlichen Teilnehmergruppen.
Marion Saxer
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1 Vgl. dazu: Christine Werner, Aus der Geschichte des INMM, in: Neue Musik – Quo vadis? (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 28), Mainz 1988, S. 166172. Die folgende Darstellung verdankt diesem Text sowie dem Dokumentationsband anlässlich der 50. Arbeitstagung des INMM (siehe FN4) wertvolle Informationen.
2 Vgl. z.B. Walter Gieseler, Orientierung am musikalischen Kunstwerk oder: Musik als Ernstfall. Adornos Thesen gegen „musikpädagogische Musik“ – eine Diskussion mit weitreichenden Folgen, in: Handbuch der Musikpädagogik, Band1 Geschichte der Musikpädagogik, hrsg. v. Hans Christian Schmidt, Kassel 1986, S. 174214.
3 Diese Auseinandersetzung ist von Lars Ulrich Abraham aufgearbeitet worden: Lars Ulrich Abraham, Dofleins Briefe an Adorno als musikpädagogische Zeitdokumente, in: Erich Doflein, Festschrift zum 70. Geburtstag, Mainz 1972.
4 Dies ist lediglich eine kleine, subjektive Auswahl der Interpretationsdozenten. Die vollständige Liste und reichhaltiges Quellenmaterial finden sich in der Dokumentation anlässlich der 50. Arbeitstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung: Vom Singen und Spielen zur Analyse und Reflexion, hrsg. v. Helga de la Motte Haber und Julia Gerlach, Hofheim: Wolke 1996.
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